Repertoire
Mittelalterliche geistliche Lieder - Gregorianischer Choral und frühe Polyphonie
Die ganze Entwicklung der mittelalterlichen Musik in Westeuropa geht von dem Gregorianischen Choral aus, der zugleich ihre Verbindung mit ihren altertümlichen Wurzeln und der musikalischen Tradition der Griechen und des Nahen Ostens darstellt. Die vom Papst Gregor I. (590–604) angeordnete Reform der Liturgie wollte u.a. durchsetzen, dass in der ganzen christlichen Welt dieselbe liturgischen Gesänge gesungen werden. Bis dahin gab es ausser der römischen noch die ambrosianische, gallikanische, mozarabische und keltische Liturgie, dazu noch die Gesänge der Ostkirche. Durch eine Vereinheitlichung der Liturgie sollte die Idee der christlichen Gemeinschaft verstärkt werden, nicht zuletzt jedoch auch der politische Einfluss Roms sichergestellt werden. Die grundsätzliche Bedeutung von Gregors Bestrebungen hat den Namen dem ganzen Komplex der aufgrund dieser Reform entstandenen liturgischen Musik gegeben, auch wenn sich die spätere gregorianische Gesänge ohne Zweifel von der ursprünglichen Edition unterscheiden.
Der Melodienschatz der Gregorianischen Gesänge hat sich während der Jahrhunderte in Westeuropa nicht nur als liturgische Musik durchgesetzt, sondern er hat auch die weitere Entwiklung der ganzen geistlichen und sogar auch weltlichen Musik beeinflusst. Die sequentia, das eigentliche geistliche Lied des frühen Mittelalters, ist unter dem Einfluss der Gregorianischen Hymnodie entstanden. Die Gregorianische Melodien wurden in der frühen Polyphonie, im organum, conductus und im Motet oft als cantus firmus, Hauptstimme, benutzt. Später hat sich die Polyphonie von dem Choral getrennt, indem man für cantus firmus neue Melodien komponierte; die formelle Verbindung mit dem Choral war jedoch immer noch deutlich.
Carmina Burana - um 1280
Diese Handschrift aus Bayern, nach dem Kloster Ottobeuren genannt, stellt eine bedeutende Sammlung der Vagantengesänge dar. Die Sprache dieser Gesänge ist zum größten Teil Latein, einige mittelhochdeutsche Texte stehen dazwischen. Die Texte sind moralisch oder politisch, es finden sich aber auch Liebes- und Tanzlieder, Trink- und Spiellieder, sogar geistliche Sprüche dazwischen. Die Verbindung zum Minnesang belegen einzelne eingestreute Strophen Reinmars von Hagenau und Walthers von der Vogelweide.
Die Handschrift enthält allerdings nur die Texte, nicht die Musik. Einige Melodien können in anderen Handschriften aus derselben oder späteren Zeit gefunden werden (z.B. das Lied Procurans odium), für manche Texte kann man Musik von anderen Liedern benutzen (das Trinklied Alte clamat Epicurus wird z.B. auf die Weise von dem Lied Walthers von der Vogelweide Nu lebe ich (Palästinalied) gesungen, dessen erste Strophe in der Handschrift hinter dem Trinklied angeführt ist). Wo es überhaupt keine Ansatzpunkte für die Vertonung gibt, kann man eine eigene schaffen, wie es in der neuren Zeit dem durch die unerhört lebendigen, eine ganze Sitten- und Kulturgeschichte spiegelnden Texte beeindruckten Carl Orff außerordentlich gut gelungen ist; seine musikalische Bearbeitung der die sittliche und kulturelle Entwicklung dieser Zeit dokumentierenden Texte wurde zu Recht weltberühmt, sie gehört allerdings schon in eine andere Kapitel der Musikgeschichte...
Liederbuch von Jistebnitz - Anfang XV. Jh.
Erste Hälfte des XV. Jh. war in Böhmen eine Zeit, die für die Entwicklung der Musik nicht besonders günstig war. In den langjährigen Kriegen wurden zahlreiche Klöster samt ihre reiche Bibliotheken vernichtet. Dazu haben noch die radikalen Vertreter der Hussitenbewegung systematisch die lateinische Liturgie, Instrumentalmusik und weltliche Musik allgemein unterdrückt; zahlreiche Handschriften aus der vorhussitischen Zeit wurden mit Absicht vernichtet. Es handelte sich hier jedoch nur um einen Teil der Anhänger des Hussitentums; davon zeugt u. a. eine der wichtigsten Handschriften aus dieser Zeit, das sog. Liederbuch von Jistebnitz. Es enthält überwiegend tschechische geistliche Lieder (die meisten davon auf Weihnachten bezogen), man findet hier jedoch auch lateinische Lieder, mehrstimmige Sätze oder Lieder mit instrumentaler Begleitung und manche von den Weihnachtsliedern weisen eine ausgesprochen weltliche Stimmung aus.
Die Handschrift wurde für lange Zeit verloren und erst im Jahre 1872 am Pfarramt in Jistebnitz in einem schwer beschädigten Zustand neu entdeckt. Von Jistebnice wurde sie in das Nationalmuseum in Prag gebracht, wo sie sich bis heute befindet.
Das Liederbuch von Jistebnitz ist sicher nicht das einzige tschechische Musikdenkmal aus dem XV. Jahrhundert. Viele Kompositionen wurden in anderen Handschriften erhalten, solchen wie die Handschrift von Vyssi Brod, die Handschrift von Vysehrad und die Handschrift von Trnava. Wichtig ist auch der Codex Franus vom Anfang des XVI. Jh.
Oswald von Wolkenstein - um 1377-1445
Dieser Ritter aus Südtirol war nicht nur ein ausgezeichneter Dichter, Sänger und Komponist, sondern auch ein wichtiger Politiker und Diplomat im Dienste König Sigismunds. Er war jedoch genauso ein Kaufmann und Landwirt, ein Rebel, ein Gefangener Herzog Friedrichs und schließlich ein Kämpfer für die Unabhängigkeit Tirols. Er sprach zehn Sprachen und beherrschte mehrere Musikinstrumente.
Oswalds künstlerisches Schaffen ist in drei Liederhandschriften erhalten. Die Texte seiner Lieder erfassen verschiedene Formen der geistlichen und weltlichen Lyrik sowie auch Berichte und Erzählungen aus seiner reichen Lebensgeschichte. Oswald führte das einstimmige Lied des Mittelalters zu einem Höhepunkt, doch befasste er sich auch mit den Liedformen des französischen Ars Nova und des italienischen Trecento.
Das von Oswald benutzte Notationssystem geht von der französischen Mensuralnotation aus, die Regeln dieses Systems können jedoch nur im beschränkten Maße angewandt werden. Bei den einstimmigen sowie bei manchen mehrstimmigen Liedern ergibt sich der Rhythmus eher aus dem Metrum des Textes im Bezug auf die Hauptstimme, woran sich die übrigen Stimmen in ihrem Verlauf orientieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Oswald die Unterstimme (Tenor) als Hauptstimme bevorzugt, auch wenn in seiner Zeit eher der Diskantliedsatz gepflegt wurde. Grund dafür war einerseits seine Stimme, da er seine Lieder auch selbst gesungen hat, andererseits jedoch wohl auch die alte Tradition seiner Heimat, die auf zweistimmigem Organum und Orgelspiel anknüpfte.
Guillaume Dufay - um 1400-1476
Dieser wohl bedeutendste Komponist seiner Zeit hat seine musikalische Tätigkeit in der Stadt Cambrai (heute Nordfrankreich) begonnen. Er hat jedoch einen wesentlichen Teil seines Lebens in Italien verbracht, im Dienste des Papstes und manchen wichtigen italienischen Adelfamilien. Zum Ende seines Lebens ist er nach Cambrai zurückgekehrt.
Dufay hat eine Vielzahl von geistlichen Kompositionen geschrieben; seine Tätigkeit am Gebiet der weltlichen Musik ist jedoch genauso bedeutsam. Er hat mehr als 70 Chansons komponiert; die meisten davon mit dem französischen Text, während seiner Aufenthalt in Italien hat er jedoch auch zu einigen italienischen Texten Musik geschrieben. Am häufigsten benutzt er die Form eines rondeau, andere damals beliebte Formen wie virelai oder ballade sind jedoch auch nicht fremd für ihn.
Dufay war in der Zeit tätig, in der die Stile und Formen der ars nova bereits festgesetzt worden waren. Er beherrschte vollkommen die damalige Kompositionstechnik, von der Bildung schöner und leicht merkbaren Melodien über ihre Verarbeitung in Immitationen und Kanonen bis zur geschmacksvollen Abstimmung der Verhältnisse einzelner Kompositionsteile in einem wohlklingenden Ganze. Er hat dadurch die Bedingungen für weitere Entwicklung des polyphonischen Gesangs, dessen Anfänge wir in seinen späteren Werken bereits spüren können.